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Sehr geehrter Vorhang!

Autoren Olga Martynova, Daniel Jurjew
Damen/Herren 5/11
Aufführungsgeschichte Frei zu UA
Bereich Schauspiel
   

 

Pjatigorsk, belagert von der deutschen Wehrmacht, August 1942 – Alexandra Nikolajewna Kornina und Wladimir Konradowitsch Kornin verkörpern immer noch, zusammen mit den Schauspielerinnen und Schauspielern ihres Ensembles, russische Theater-Tradition und -Avantgarde. Bei der Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht sind, auch während der Vorstellungen, viele Menschen im Publikum und Schauspieler*innen an Hunger und deutschem Bombenhagel gestorben: „Lady Macbeth“ beispielsweise und der „Stumme Blumenträger“ sind tot. Und auch jetzt, in Pjatigorsk, geht es nicht nur darum, welcher Traum um welchen Preis fortdauern kann, sondern auch darum, wer von den Schauspieler*innen die deutsche Besatzung, den Holocaust, Rassismus und mörderische Diskriminierung überlebt.
Der Vorhang, der ihr Spiel Abend für Abend enthüllt, wird bald einhundert Jahre alt – und er verdient es, mit Gájews kleinem Schrank-Monolog aus Tschechows „Kirschgarten“ adressiert zu werden – zumal „Der Kirschgarten“ als Stück im Repertoire bedingt durch die Todesfälle im Ensemble und Geringschätzung seitens der Deutschen verloren zu gehen droht: „Sehr geehrter Vorhang!“ Dieser Vorhang enthüllt und versteckt. Er konserviert auch Träume: Niemals war der Traum von einer Revolution und einer Wendung zum Guten stärker als in der „Vorrevolutionsbohème“. Einen Traum, der in der politischen Wirklichkeit längst pervertiert wurde. Und dann gab es in den 1920er Jahren Erwin Piscator und – Berlin! 1927! Eine Stadt, in der Hamlet von Rita Goldenstern, einer Frau und Jüdin, verkörpert wurde und Schauspieler wie Goscha und Anton auf der Bühne und im Leben schwul sein durften.
Auf diesem Vorhang werden Hammer und Sichel jetzt durch ein Hakenkreuz ersetzt. Eine Flucht aus Pjatigorsk vor dem Einmarsch der Deutschen wird von den meisten als aussichtslos erachtet. In der Rolle der Ophelia ist nun Rita Gyldenstern zu erleben – ein y ersetzt das o in ihrem Namen. Man hofft, dass Ritas Name nun nicht ihre jüdische Herkunft verrät. Die Kornina wird ihrem Mann, Kornin, später sagen, sie habe dem Gestapochef gegenüber Ritas Herkunft aus einem dänischen Adelsgeschlecht glaubhaft gemacht. Der Preis freien Eintritts hat offenbar noch mehr erwirkt: Das Ensemble „darf“ nach Berlin reisen – und dort sogar in Anwesenheit von Adolf Hitler „Hamlet“ spielen. Wer sich für diesen Weg in die „Reichshauptstadt“ entschieden hat spielt nun „Hamlet“ in russischer Sprache – und bringt darin eine Geschichte unter, die, mangels Fremdsprachenkenntnis, der „Führer“ nicht versteht. Als Berlin zunehmend unter Beschuss durch die Alliierten gerät, „darf“ die „Theatertruppe“ in das besetzte Frankreich reisen. Goscha allerdings, der in seiner Traumstadt Berlin nicht aufhören wollte schwul zu sein, ist deportiert und ermordet worden.
In Paris schließlich sieht sich das Ensemble nach Ende des Zweiten Weltkrieges vor die Frage gestellt, ob sie in die Sowjetunion zurückkehren und der Zusicherung von Straffreiheit Glauben schenken will. Hammer und Sichel und Hakenkreuz ist jetzt der gallische Hahn gefolgt. Einige entscheiden sich für die Rückkehr im Zeichen von „Hammer und Sichel“ – und werden dort zu zehn Jahren „Besserungsarbeitslager“ verurteilt. Sie spielen „Hamlet“ auch in Anwesenheit von Josef Stalin. – Alexandra Nikolajewna Kornina glaubt, dass sie eine Art „Freiheit“ erwirken kann und schreibt Stalin einen Brief. Sie stirbt an den Folgen eines so genannten „Überfalls.“ Unerklärlich grausam sollen die Täter gewesen sein. Aber ihr Mann und jene Schauspieler, die weder verhungert, deportiert oder anderweitig ermordet worden sind, sind auch nach dem Tod von Josef Stalin 1953 noch am Leben und machen Lagertheater zu Lenins Geburtstag. Wladimir Konradowitsch Kornin werden „Freiheit“ und die Leitung eines Theaters in Aussicht gestellt. Rita und Wadim haben indes einen Blumenladen mit dem Namen „L‘Âme russe“ in Paris eröffnet.

 

Immer wieder legen die Schauspieler*innen des Stücks „Sehr geehrter Vorhang!“ ihre Rollen auch in der Gegenwart einer etwaigen (Ur-) Aufführung beiseite, ziehen Dokumente über die Belagerung von Leningrad, die Rhetorik von Josef Goebbels und die Dichtung von Jelena Schwarz (1948-2010 aus dem inneren Exil in der Sowjetunion/Russland heran. Sie geben sie ihren Bühnenfiguren mit auf den Weg- und wissen nicht, inwieweit am Ort/zum Zeitpunkt der Aufführung beispielsweise Homosexualität von Politik und „Mehrheitsgesellschaft“ toleriert wird.