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Peter Radtke

Biographie

Peter Radtke (1943-2020) war Dolmetscher für Englisch, Französisch und Spanisch, hatte Germanistik und Romanistik studiert und mit „Das Problem ‚Brüchigkeit‘ – eine Untersuchung zu Rabelais, Diderot und Claudel“ an der Universität Regensburg promoviert. Radtke litt an Osteogenesis imperfecta (umgangssprachlich: „Glasknochenkrankheit“). Zusammen mit seiner wissenschaftlichen Kompetenz  integrierte er auch seine Erfahrungen als Mensch mit Behinderung in seine Arbeit als Schauspieler, Autor und Fachgebietsleiter für das „Behindertenprogramm“ der Münchner Volkshochschule. Bis 2016 gehörte er dem Deutschen Ethikrat an. Am TamS (Theater am Sozialamt) brachte er 1981 sein Stück „Nachricht vom Grottenolm“ zur Uraufführung. Er war u.a. maßgeblich an George Taboris „Medea“-Produktion 1985 an den Münchner Kammerspielen beteiligt: Sein Wissen um die soziale Rolle eines „Behinderten“ in der Bundesrepublik machte eine neue Lesart der „Medea“ des Euripides möglich: Es war Jason (nicht: Medea), die das Kind (verkörpert von Peter Radtke) ermordete und diesen Mord Medea unterschob. Als Autor brachte Peter Radtke „Nachricht vom Grottenolm“ in die Tabori-Inszenierung ein und reflektierte seine Erfahrungen als so genannter „Behinderter“ bei dieser Produktion auch in „M – wie Tabori: Erfahrungen eines behinderten Schauspielers“ (1987). Die „Krüppelvision“ aus seinem Stück „Nachricht vom Grottenolm“ im Kontext des Premierenabends an den Münchner Kammerspielen beschreibt Radtke dort so:

 

Jason hat den Bühnenrand erreicht, kann nicht mehr weiter entweichen. „Und jetzt ist unsere Zeit, jetzt sind wir da, lauter kleine Krüppel!“ Ich umfasse die Knie des Vaters, ziehe mich an ihnen hinauf. Ein Menschenkoloß sitzt vor mir im Rollstuhl. Ich richte mich auf, ranke mich wie Efeu an ihm nach oben. Die Höhe zu erklimmen, scheint Illusion. Doch mit jedem Satz, den ich gegen den Peiniger schleudere, sinkt dieser tiefer in sich zusammen. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Erregt wischt er sie mit dem Seidenkeid ab. Er will nichts hören, muss es jedoch. „Mit Fingerstümpfen werden wir auf ihn zeigen. Seht: ein Gesunder!“ Ich biege den Zeigefinger ab, deute mit dem Knöchel auf den besiegten Sieger. Ich begreife meine Waffe, Waffe, die mir auch im täglichen Leben zur Verfügung steht: Überlegenheit durch die Kraft des Wortes, durch die Macht der Vision. Sätze werden zu Peitschenhieben, Bilder zu Foltergeräten. Jede Silbe koste ich aus, spüre, wie sie das Publikum in die Stühle fesselt. … Jason steht auf, kniet sich zu mir herab. Das ist der Sieg der Machtlosen, immer und überall: Der moralische Gewinn bedeutet Verhängnis. Der Tod des Kindes war beschlossene Sache. Und doch – erst die Überlegenheit des Schwachen besiegelt die physische Vernichtung.
Peter Radtke. M. wie Tabori – Erfahrungen eines behinderten Schauspielers. Pendo-Verlag Zürich 1987.

Werke

Auch ein Othello
Die Stunde der Viper
Hermann und Benedikt oder Das Brot teilen
Hunger-Künstler
Nachricht vom Grottenolm