Nachricht vom Grottenolm
Profil
Autoren | Peter Radtke |
Herren | 1 |
Bereich | Sprechtheater |
Genre | Schauspiel |
Synopse
Stephan Wünschmann hat alle Voraussetzungen für ein Leben geschaffen, das dem „Normalitätsanspruch“ einer bürgerlichen Gesellschaft gerecht würde. Er führt dem Publikum und sich selbst vor, wie ein solches Leben aussieht – und wie es assähe für ihn selbst. Für eine anspruchsvolle Erwerbstätigkeit ist er mindestens äußerst qualifiziert und „geeignet“. Könnte in der Post an diesem Tag nicht eine Job-Zusage oder zumindest eine Einladung zum Vorstellungsgespräch sein? Ist nicht die Frau, deren Besuch Stephan Wünschmann erwartet, dazu befähigt, ihn zu lieben? Stephan Wünschmann sitzt im Rollstuhl. Können Menschen mit Behinderung nicht davon ausgehen, dass ihre Mitmenschen mehr als die „Behinderung“ wahrnehmen?
Das Stück zeigt, dass Behinderung nicht das Problem einer Minderheit ist, sondern dass sie als eine von der Gesellschaft produzierte Kommunikationsstörung erkannt werden muss, an der jede*r einzelne von uns beteiligt ist, von der jede*r einzelne von uns betroffen ist.
Am TamS (Theater am Sozialamt) in München brachte Peter Radtke sein Stück „Nachricht vom Grottenolm“ 1981 selbst zur Uraufführung. Als Schauspieler verkörperte er „das Kind“ in George Taboris Medea-Produktion an den Münchner Kammerspielen 1985, als Autor-Schauspieler/Co-Autor dieser „Medea“ brachte er „Nachricht vom Grottenolm“ ein und reflektierte seine Erfahrungen als so genannter „Behinderter“ bei dieser Produktion auch in „M – wie Tabori: Erfahrungen eines behinderten Schauspielers“ (1987). Die „Krüppelvision“ aus seinem Stück „Nachricht vom Grottenolm“ im Kontext des Premierenabends an den Münchner Kammerspielen beschreibt Radtke dort so:
Jason hat den Bühnenrand erreicht, kann nicht mehr weiter entweichen. „Und jetzt ist unsere Zeit, jetzt sind wir da, lauter kleine Krüppel!“ Ich umfasse die Knie des Vaters, ziehe mich an ihnen hinauf. Ein Menschenkoloß sitzt vor mir im Rollstuhl. Ich richte mich auf, ranke mich wie Eufeu an ihm nach oben. Die Höhe zu erklimmen, scheint Illusion. Doch mit jedem Satz, den ich gegen den Peiniger schleudere, sinkt dieser tiefer in sich zusammen. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Erregt wischt er sie mit dem Seidenkeid ab. Er will nichts hören, muss es jedoch. „Mit Fingerstümpfen werden wir auf ihn zeigen. Seht: ein Gesunder!“ Ich biege den Zeigefinger ab, deute mit dem Knöchel auf den besiegten Sieger. Ich begreife meine Waffe, Waffe, die mir auch im täglichen Leben zur Verfügung steht: Überlegenheit durch die Kraft des Wortes, durch die Macht der Vision. Sätze werden zu Peitschenhieben, Bilder zu Foltergeräten. Jede Silbe koste ich aus, spüre, wie sie das Publikum in die Stühle fesselt. … Jason steht auf, kniet sich zu mir herab. Das ist der Sieg der Machtlosen, immer und überall: Der moralische Gewinn bedeutet Verhängnis. Der Tod des Kindes war beschlossene Sache. Und doch – erst die Überlegenheit des Schwachen besiegelt die physische Vernichtung.
Peter Radtke. M. wie Tabori – Erfahrungen eines behinderten Schauspielers. Pendo-Verlag Zürich 1987.